| Nr. 145/08

zu TOP 20: Hochbegabung darf kein Problem sein

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Es gilt das gesprochene Wort

In der FAZ vom 19.10.2007 wurde der „typische Lebenslauf“ einer Hochbegabten beschrieben, die mittlerweile mit einem Intelligenzquotienten von 140 getestet wurde: Sie hat das Gymnasium abgebrochen, ist auf die Realschule und dann die Hauptschule gewechselt, zurück aufs Gymnasium gegangen und hat ihr Abitur mit Durchschnitt 2,9 geschafft. In der Zwischenprüfung des Soziologiestudiums riet die Professorin von einer Fortsetzung des Studiums ab. Sie machte weiter und schloss das Hauptstudium nach fünf Semestern mit 1,0 ab. Ein anderes Mädchen war im Alter von 11 Jahren in der sechsten Hauptschulklasse. Der Rektor riet zum Wechsel auf die Sonderschule. Das Mädchen wurde mit einem IQ von über 140 getestet.

Diese Mädchen haben Namen, sie heißen Wiebke und Paula und sind nur zwei von vielen Beispielen. Sie haben trotz dieser eigentlich unfassbaren Schicksale noch Glück, denn sie wissen, dass sie hochbegabt sind. Und sie haben es am Ende doch noch geschafft, in unserem Bildungswesen zu bestehen.
Viele andere Menschen wissen nichts von ihrer Begabung, und sie schaffen es deshalb auch nicht. Etwa 10.000 hochbegabte Kinder in Deutschland enden jedes Jahr in Deutschland als Schulversager.

Und das in einer Zeit, in der unsere Wirtschaft zunehmend über Fachkräftemangel klagt. Gerade erst wurden Zahlen des BDI bekannt, nach denen durch den Mangel an über 90000 Ingenieuren im letzten Jahr 7 Milliarden Wertschöpfungsverlust entstanden. Was haben diese Zahlen mit einer Großen Anfrage zum Thema „Hochbegabte“ zu tun?

Sie belegen einmal mehr, dass eine gute Bildungspolitik nicht nur für jeden einzelnen Menschen gemacht wird, dem unsere freiheitliche Gesellschaft natürlich größtmögliche Aufstiegschancen bieten will. Für unsere Gesellschaft, deren größte Ressource bekanntlich die Köpfe ihrer Bürgerinnen und Bürger sind, ist die Ausbildung hochqualifizierter Absolventen ihrer Bildungseinrichtungen nicht weniger als eine Überlebensfrage.

Wir können es uns schlicht nicht leisten, auch nur auf einen qualifizierten Kopf zu verzichten.

Deshalb unternehmen wir enorme Anstrengungen, um nach Möglichkeit jedes Kind – unabhängig von seinen sozialen Rahmenbedingungen – zu einem möglichst guten Schulabschluss zu führen. So haben wir trotz der anerkanntermaßen schlechten Haushaltslage die Ausgaben für die Verbesserung der Bildung unserer Kinder sowie für die Kleinkinderbetreuung deutlich erhöht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Beschlüsse der großen Koalition zur Verbesserung der Qualität der Bildung vom Juli letzten Jahres in Höhe von 540 Millionen in den Jahren 2010 bis 2020 sowie zur Erhöhung der Betreuungsplätze in der Kleinkinderbetreuung von 113 Millionen bis 2013. Dass wir damit ganz eindeutige und richtige Prioritäten gesetzt haben, will ich an dieser Stelle ausdrücklich unterstreichen.

Denn wir haben mit der letzten Schulreform viel erreicht, um gerade denjenigen Kindern aus so genannten „bildungsfernen Haushalten“ bessere Chancen auf eine erfolgreiche Schullaufbahn zu ermöglichen. Schleswig-Holstein hat mit dieser Schulreform der großen Koalition einen enormen Schritt nach vorne gemacht.

Das heißt jedoch nicht, dass nicht noch weitere Schritte gemacht werden könnten oder sogar müssten. So ist es kein Geheimnis, dass die CDU gerne sowohl im Koalitionsvertrag als auch im Schulgesetz die Förderung hochbegabter Kinder gesondert geregelt hätte. Da im Gesetz die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes vorgeschrieben ist, sah unser Koalitionspartner eine gesonderte Erfassung der Hochbegabten nicht als erforderlich an. Diese Position wird auch in der Antwort der Landesregierung noch einmal deutlich.

Wir wissen jedoch, dass andere Länder bei der Förderung der Hochbegabten deutlich über das hinausgehen, was in unserem Bundesland üblich ist, und zwar weit mehr als wir. Und sie tun dies bemerkenswerterweise unabhängig von den politischen Mehrheiten:

Beispielsweise gibt es seit 2004 im rot/roten Berlin ein Konzept zur Förderung hochbegabter Schülerinnen und Schüler; Bayern hat seit 1983 ein Begabtenförderungsgesetz, mittlerweile gibt es dort Hochbegabtenklassen, das Land Hessen ist seit 2002 sehr aktiv in diesem Bereich; neben der rheinland-pfälzischen Konzeption gibt es in Kaiserslautern eine Schule für Hochbegabte, in Thüringen gibt es nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung Spezialgymnasien bis hin zum Internat oder zumindest Gymnasien mit Spezialklassen. Baden-Württemberg hat seit 1984 ein Programm zur Förderung besonders befähigter Schülerinnen und Schüler. In Niedersachsen wurde in den Jahren 2002 bis 2007 die schulische Begabungsförderung stufenweise an bestimmten Standorten in Niedersachsen intensiviert und ein flächendeckendes Schulangebot für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Begabungen aufgebaut. Gleichwohl sagen Fachleute, dass die Hochbegabtenförderung in Deutschland insgesamt noch in den Kinderschuhen steckt.

Das zeigt: Wir können es uns gerade angesichts des Bildungsföderalismus nicht leisten, Hochbegabtenförderung ohne eine konkrete Konzeption oder sogar unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu betreiben. Denn mittlerweile werden die ersten Fälle bekannt, dass genau aus diesem Grund hochbegabte Kinder unser Bundesland verlassen: So berichtete der NDR im vergangenen Jahr über den zehnjährigen Marvin aus dem Kreis Schleswig-Flensburg, der mittlerweile ein Internat in Thüringen besucht.

Gute Bildungspolitik wird in Zeiten des Wettbewerbs um die besten Köpfe zum Standortfaktor. Wir müssen jedes Kind seiner Begabung entsprechend fördern. Und das bedeutet nicht nur, kein Kind zurück zu lassen. Das bedeutet auch, kein Kind aufzuhalten. Denn wenn wir dieses – durch die Unterlassung optimaler Fördermöglichkeiten - tun, dann verlassen die besonders begabten Schülerinnen und Schüler unser Bundesland.

Schätzungsweise zwei Prozent jedes Schülerjahrganges sind hochbegabt. Diese Zahl ist erfreulich. Denn die dahinter steckenden jungen Menschen bieten unserer Gesellschaft ein enormes Potential an wissensdurstigen Köpfen, welche in der Lage sind, unsere Gesellschaft zu fordern und damit nach vorne zu bringen. Weniger erfreulich ist, dass - wenn wir international übliche Schätzungen zugrunde legen – etwa 300 dieser hochbegabten Schülerinnen und Schüler pro Jahr unsere Bildungsinstitutionen ohne Abschluss bzw. mit einem Abschluss verlassen, der sehr deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Neben ihrem jeweiligen bemerkenswerten persönlichen Schicksal geht damit in aller Regel ihr großes Potential unserer Gesellschaft verloren.

Wie kommt es zu diesem Widerspruch zwischen hervorragenden Anlagen einerseits und dem fehlenden Erfolg im Bildungssystem andererseits?

Hochbegabung bedeutet nicht automatisch Hochleistung. Denn der Begriff Hochbegabung beschreibt lediglich im Vergleich zu den Fähigkeiten normal begabter Menschen eine außergewöhnliche logische Denkfähigkeit und Denkgeschwindigkeit.
Ob sich aus der jeweiligen Hochbegabung auch eine Hochleistung entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab: Entscheidend ist, dass die Hochbegabung früh erkannt wird und dann die Kinder optimal gefördert und auch gefordert werden.

Das frühe Erkennen der Hochbegabung scheint dabei am wichtigsten zu sein: Fachleute schätzen, dass 80% der Hochbegabten nicht erkannt werden. An dieser Stelle gilt es mit einem immer noch weit verbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Es lautet: Wer eine außergewöhnliche Begabung hat und nicht ausreichend gefördert wird, der schafft eben nur eine durchschnittliche und keine außergewöhnliche Leistung.

Denn ein Ausdruck der Hochbegabung kann sein, dass die Kinder sich dem „normalen“ Anspruchsniveau völlig verweigern –dann kommt es zum Schulversagen und nicht selten zu Schlimmerem.

Hochbegabte Kinder gibt es bei weitem nicht nur in den so genannten „bildungsnahen“ Familien. In letzteren wird die Hochbegabung sicherlich häufiger erkannt und gefördert als in ersteren. Wo das öffentliche Bildungswesen kein adäquates Angebot vorhält, übernehmen die Familien und private Initiativen mit hohem persönlichem Engagement die Förderung der Kinder. An dieser Stelle begrüße ich auf der Tribüne ganz herzlich Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind“. Aber auch in den so genannten „bildungsfernen“ Familien gibt es hochbegabte Kinder, die eben nicht erkannt werden. Und Verhaltensweisen, die durchaus auf Hochbegabung schließen ließen, werden dann von Eltern und Lehrern als Zeichen der „schweren Erziehbarkeit“ gedeutet. Häufig sind es also gerade diese Kinder, für welche die hohe Begabung zu einer hohen Belastung wird.

Für meine Fraktion war es vor diesem Gesamthintergrund zwingend erforderlich, die Situation der Hochbegabten in Schleswig-Holstein über eine Große Anfrage näher zu beleuchten.

Die Antworten auf diese Große Anfrage zeigen in der Tat, dass wir in der Hochbegabtenförderung einen akuten Handlungsbedarf haben. Professor Ziegler von der Universität Ulm kommentierte dies in einem gestern bekannt gewordenen Gutachten, das nach meiner Kenntnis auch dem Bildungsministerium zugegangen ist, so: „Hochbegabtenförderung in Schleswig-Holstein ist derzeit unspezifisch, schmal im Angebot, geschieht en passant und ist eine Hohlschuld der Hochbegabten.“

Ich möchte an dieser Stelle feststellen, dass dies für die CDU-Fraktion nicht akzeptabel ist. Das müssen wir ändern!

Das dringendste Problem ist offensichtlich. Es fehlt uns ein System, mit dem hochbegabte Kinder möglichst früh erkannt werden. Zu dieser Früherkennung müssen unsere Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer flächendeckend in die Lage versetzt werden. Auch hier zitiere ich Professor Ziegler: „Ob eine Hochbegabung in Schleswig-Holstein entdeckt wird, ist Zufall. Es werden keinerlei Anstrengungen zur Identifikation Hochbegabter unternommen.“

Für mich ist nicht nachvollziehbar, dass es für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein geregeltes Anerkennungsverfahren und besondere Fördermaßnahmen gibt, ein vergleichbares System den hochbegabten Kindern jedoch vorenthalten wird. Denn eins ist auch klar: Nicht jedes Kind, dessen Eltern es für hochbegabt halten, ist dies auch. Und nicht jedes verhaltensauffällige Kind ist ein Genie. Gerade deshalb brauchen wir anerkannte Testverfahren, um im zweiten Schritt den Kindern eine zielgerichtete Förderung zu ermöglichen.

Und da bieten aus meiner Sicht leider die Möglichkeiten unseres Schulgesetzes mit der flexiblen Eingangsphase und dem Überspringen von Klassen keine ausreichenden Fördermöglichkeiten. Für hochbegabte Kinder ist das eher ein Mittel, die Langeweile zu verkürzen und das Abgleiten in Frustration zu verhindern.

Die zusätzlichen schulischen und außerschulischen Angebote sind sicherlich ein erster Schritt auf einem langen Weg. Sie machen jedoch auch ein Problem besonders deutlich, dass von Hochbegabtenvereinen vor allem beklagt wird: Entscheidend für die Möglichkeit der Teilnahme ist die Hochleistung an der Schule. Und damit werden genau diejenigen nicht erfasst, die, obwohl sie hochbegabt sind, keinen Erfolg an der Schule haben. Professor Ziegler stellte dazu fest: „Es gibt zwar Fördermaßnahmen, die von Hochbegabten wie von allen anderen Schülern auch in Anspruch genommen werden können. Es gibt jedoch keine einzige aktive Fördermaßnahme, die sich gezielt an Hochbegabte wendet.“

Wir müssen uns zunächst auf ein allgemein anerkanntes Testverfahren verständigen. Dann sollten wir uns über entsprechende Fördermaßnahmen bis hin zu Einrichtungen verständigen. So kann ich mir vorstellen, etwa vier Schulen im Land verteilt einzurichten, an denen besonders Begabte auch besonders gefördert werden können.

Wir Politikerinnen und Politiker beklagen häufig, dass die Menschen überhaupt nicht wahrnehmen, was wir tun. Ich war deshalb sehr überrascht, wie viele Zuschriften meine Fraktion nach der Veröffentlichung erhalten hat. Persönlich betroffene Eltern schilderten uns, wie sie versuchen, ihrem hochbegabten Kind ein weitgehend normales Heranwachsen zu ermöglichen.

Diese sehr persönlichen Briefe haben mich am meisten bewegt und teilweise überrascht. Nach der Lektüre geht mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: Ist es wirklich ein Problem in unserer Gesellschaft und damit auch für unsere Gesellschaft, dass ein Kind hochbegabt ist?

Ein Weiteres ist mir bei der Lektüre klar geworden: Die Eltern und auch die Kinder wünschen sich nichts mehr als ein normales Heranwachsen ohne den berühmten Stempel auf der Stirn. Die Forderung nach eigenen Klassen oder eigenen Schulen – die zunächst mal wie der Wille nach elitärer Abschottung aussieht - begründet sich genau daraus: Denn im Kreise anderer Hochbegabter ist das Kind normal.

Lassen Sie uns in Schleswig-Holstein dafür sorgen, dass es kein Problem ist, wenn ein Kind besondere Begabungen hat.

Ich halte den Vorschlag von Professor Ziegler, einen runden Tisch zu diesem Thema einzurichten, für zielführend. Wir brauchen ein besseres System zur Früherkennung, das zu aussagefähigen Statistiken führt. Wir brauchen ein Gesamtkonzept zur Hochbegabtenförderung. Und wir brauchen echte Fördermaßnahmen.

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Max Schmachtenberg
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