Nachkriegszeit | | Nr. 168/21
TOP 62: Folgestudie zeigt, Gruppe der NS-Belasteten war in Justiz, Polizei und Verwaltung immens groß
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute können wir die Ergebnisse der fraktionsübergreifend in Auftrag gegebenen Folgestudie zur geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Schleswig-Holstein präsentieren. Gegenstand des Projektes in dieser Legislaturperiode war es, neben der Legislative auch die Landesverwaltung, die Justiz und die kommunale Ebene in den Blick zu nehmen.
Dass Sie, Herr Professor Danker und ihr gesamtes Team, uns heute trotz coronabedingter Einschränkungen die Ergebnisse präsentieren, dafür möchte ich Ihnen allen meinen Dank, Respekt und Anerkennung aussprechen. Ich möchte mich außerdem bei meinen Kollegen im begleitenden Beirat des Landtags und stellvertretend bei unserem Vorsitzenden Burkhard Peters bedanken.
Die heute vorgelegte Untersuchung stellt bereits die zweite im Auftrag dieses hohen Hauses durchgeführte Kontinuitätsstudie dar.
Dass Sie und Ihr Team, verehrter Professor Danker, sich bereit erklärt haben, sich dieser Herausforderung erneut zu stellen, kann nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet werden.
So war doch bereits die erste Studie mit einem enormen Engagement und Zeitaufwand verbunden. Sicher konnten Sie in diesem Fall zum Teil auf den bestehenden Datensatz und die bewährte Methodik zurückgreifen, aber die ersten Abstimmungsgespräche mit dem Beirat haben deutlich gemacht, wie umfangreich die Fragestellung war. So haben wir gemeinsam, Beirat und Ihr Team, das Studienkonzept erarbeitet. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass es einer Fortentwicklung der Methodik und eines Ausbaus der bestehenden Datenbank bedurfte.
Und so ist die Untersuchung, wie sie uns heute vorliegt, bundesweit einmalig. Mit der ausgefeilten Methodik, der schieren Anzahl der Personen und Einzelbiographien sowie dem Umfang der Studie haben wir bundesweit Maßstäbe gesetzt. Schleswig-Holstein hat hier seine historische Verantwortung wahrgenommen und seine Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns gemeinsam mit Professor Danker dazu entschieden, Untersuchungsgruppen aus den Feldern Sozialverwaltung, Justiz, Polizei und Kommunalpolitik Schleswig-Holsteins in den Blick zu nehmen. Ich möchte Ihnen allen ans Herz legen, diese Studie zu lesen. Die vorliegenden Ergebnisse sind nicht wirklich überraschend, aber in Teilen doch unerwartet bedrückend und müssen vor allen Dingen immer im Kontext bewertet werden. Die Debatte heute kann dem unmöglich gerecht werden.
Dass die Studie für die Untersuchungsgruppen der Landessozialverwaltung, der Polizei und der Justiz besonders hohe Verstrickungs- und Belastungsgrade aufzeigen würde, war vor dem Hintergrund insbesondere der Erkenntnisse aus der Vorgängerstudie zu erwarten. Dass dies so deutlich ausfallen würde, war dann doch überraschend. In allen drei Gruppen zeigt sich ein hoher Anteil von Personen, die intensiv am nationalsozialistischen Unrecht mitgewirkt haben oder sogar direkt in Verbrechen verstrickt waren.
Besonders markant zeigt sich diese Verstrickung bei Polizei und Justiz. Auch mich als Innenpolitikerin und Juristin machen diese hohen Zahlen wirklich betroffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Studie hat es nochmal sehr deutlich gemacht: Die Gruppe der teilweise schwerst NS-Belasteten in Justiz, Polizei und Verwaltung war immens groß. An vielen zentralen Stellen saßen NS-belastete Menschen, ehemalige Nationalsozialisten und sogar Männer, die in schwerste und bis heute einmalige Verbrechen verstrickt waren. Allein die Anzahl der Personen ist in ihren Dimensionen erschreckend.
Aber es war wohl der große Personalbedarf, der die britische Besatzungsmacht und diejenigen, die unsere Verwaltung, Justiz und Polizei wiederaufgebaut haben, dazu bewog, auch diese stark belasteten Personen in den Wiederaufbau irgendwie mit einzubinden. Gerade weil anders ein Wiederaufbau wohl kaum möglich gewesen wäre.
Unser seinerzeit junger Rechtsstaat musste oder wollte diese Personen also irgendwie einbinden. Dafür wurde jedoch ein hoher ethischer Preis bezahlt. Für die Opfer des Nationalsozialismus muss das schrecklich gewesen sein. Und noch heute schaudert es uns bei der Vorstellung, wie viele Personen mit schwerer Schuld an zentralen Stellen in unserem Land saßen.
Aber trotz der äußerst problematischen personellen Kontinuitäten in der Landesverwaltung – und das ist die positive Botschaft – gelang es nach dem Krieg, in Schleswig-Holstein einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat aufzubauen.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei der Untersuchung der Kommunalpolitik. In dieser 143 Personen umfassenden Gruppe weisen „nur“ 29 % der ausgewählten Akteure eine Mitgliedschaft in der NSDAP auf. Auf kommunalpolitischer Ebene wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit offensichtlich sensibler und aufmerksamer mit vorherigen NS-Belastungen umgegangen. Vielleicht können die selbstbestimmten Kommunen auch als Säule für das Gelingen des rechtsstaatlichen Wiederaufbaus betrachtet werden?
In der deutschen Geschichte sollte ein solcher Wiederaufbau der Rechtsstaatlichkeit übrigens nochmals gelingen: Die Dimension des Unrechts und der Verbrechen in der DDR waren natürlich schon andere als in der NS-Zeit. Aber auch vor dreißig Jahren, nach der Wende in der ehemaligen DDR, standen die Neuen Länder 1990 vor personellen Herausforderungen. Auch hier ist das Experiment gelungen. In beiden Fällen macht die Erkenntnis Mut, dass man eine Demokratie auch mit belasteten Personen aufbauen kann. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beweisen hier also ihre Wehrhaftigkeit und Stärke.
Geschichte wiederholt sich nicht und Schlüsse aus der Vergangenheit lassen sich nur geringfügig ziehen. Aber für aktuelle Problemfälle in der Welt, wie Syrien, Libyen oder Venezuela macht unsere Studie Hoffnung, dass ein friedliches Zusammenleben, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch nach Bürgerkrieg und Diktatur gelingen können. Ob Schleswig-Holstein beim Umgang mit den Tätern Vorbild sein kann, bleibt hingegen höchst fraglich.
Abschließend möchte ich sagen: Wie bereits bei der Ausgangsstudie ging und geht es ausdrücklich nicht darum, mit dem Finger auf jemandem zu zeigen. Und so bedanke ich mich bei allen demokratischen Fraktionen für die sachliche, fokussierte, eben nicht an Parteipolitik orientierte Auseinandersetzung mit der Studie.
Vielleicht ist eine der Lehren, die wir aus der Studie ziehen können, diejenige, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit starke Modelle sind. Die Verbrechen und die Schuld in der NS-Zeit waren einmalig und die Krise nach 1945 gewaltig. Aber dennoch konnten Grundrechte und Demokratie sich wieder behaupten.
Die zweite Lehre ist, dass wir es heute gar nicht erst soweit kommen lassen dürfen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefährdet werden. Die Querdenkerbewegung und die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen lehren uns, dass wir immer wachsam sein müssen und es die dauerhafte und ständige Aufgabe aller Demokraten ist, unser Gemeinwesen zu schützen und zu verteidigen!
Sie haben Fragen zu diesem Artikel? Sprechen Sie uns an:
Max Schmachtenberg
Düsternbrooker Weg 70, Landeshaus, 24105 Kiel